AMK Legal News powered by reuschlaw Q1/2022

A. Thema des Quartals: Der Rechtsstatus von technischen Normen

Produkte dürfen grundsätzlich nur auf dem Markt bereitgestellt werden, wenn sie verkehrsfähig sind. Hierzu müssen sie den Sicherheitsanforderungen der produktbezogenen Rechtsakte entsprechen. Die Sicherheitsanforderungen umfassen in der Regel technische Spezifikationen, die in technischen Normen festgelegt und definiert sind. Eine technische Norm ist per Definition eine von einer anerkannten Normungsorganisation angenommene technische Spezifikation zur wiederholten oder ständigen Anwendung (vgl. Art. 2 Nr. 1 VO (EU) Nr. 1025/2012). Sie kann von internationalen, europäischen oder nationalen Normungsorganisationen angenommen werden. Einige EU-Verordnungen nehmen darüber hinaus Bezug auf die Möglichkeit der Anwendung von so genannten „harmonisierter Normen“. Dies sind gemäß Art. 2 Nr. 1 c) VO (EU) Nr. 1025/2012 solche technischen europäischen Normen, die auf der Grundlage eines Auftrags der EU-Kommission zur Durchführung von Harmonisierungsrechtsvorschriften der Union erarbeitet wurden.

Freiwilligkeit der Anwendbarkeit von technischen Normen

Technische Normen bilden in der Regel den im Produktsicherheitsrecht maßgeblichen Sicherheitsstandard des Standes der Technik ab, der in Abgrenzung zu den allgemeinen Regeln der Technik, sowie zum Stand von Wissenschaft und Technik in der Regel den Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren oder Betriebsweisen darstellt, die mit Erfolg in der Praxis erprobt worden sind.

Die Anwendung technischer Normen steht jedem Hersteller gemäß Art. 2 Nr. 1 VO (EU) Nr. 1025/2012 frei. Dies bedeutet, dass Hersteller grundsätzlich auch auf andere technische Spezifikationen zurückgreifen können, um die Übereinstimmung ihrer Produkte mit den Vorgaben der jeweiligen produktbezogenen Rechtsakte zu gewährleisten.

Harmonisierte Normen sind Teil des Rechtes der Europäischen Union

Harmonisierte Normen stellen einen Sonderfall von technischen Normen dar.

Zum einen können harmonisierte Normen, die im Auftrag der EU-Kommission von den privatrechtlichen Normungsorganisationen angenommen wurden, im Amtsblatt der Europäischen Kommission veröffentlicht werden. Die Anwendung dieser Norm kann eine sogenannte gesetzliche Vermutungswirkung entfalten (hierzu weiter unten).

Zum anderen hat es in den letzten Jahren einige wegweisende Urteil der Gerichte der Europäischen Union gegeben, die dem Rechtsanwender bekannt sein sollten:

So hat der EuGH im sogenannten James-Elliott-Urteil vom 27.Oktober 2016 (Az. C-613/14) harmonisierte Normen als Teil des Unionsrechtes anerkannt. Dies hat in erster Linie Auswirkungen auf die Veröffentlichungspraxis der harmonisierten Normen durch die EU-Kommission. Die harmonisierten Normen werden nun nicht mehr in Form einer Mitteilung im Teil C des Amtsblattes der EU veröffentlicht, sondern als Durchführungsbeschluss im Teil L des Amtsblattes der EU, wo üblicherweise rechtsverbindliche Rechtsakte der Union veröffentlich werden. Zudem zieht die EU-Kommission bei der Erstellung harmonisierter Normen nunmehr so genannte HAS-Consultants (Harmonized Standards Consultants) hinzu, um sicher zu stellen, dass die harmonisierten Normen tatsächlich die in dem jeweiligen Rechtsakt festgelegten, grundlegenden Sicherheitsanforderungen erfüllen und dem Stand der Technik entsprechen. Dies führt zu einer deutlich verlangsamten Veröffentlichung von harmonisierten Normen durch die EU-Kommission, was sich derzeit vor allem im Bereich der Medizinprodukteherstellung, sowie im Bereich der Funkanlagenproduktion erheblich auswirkt.

Die Konformität des Produktes wird bei der Anwendung der technischen Norm vermutet

Im Übrigen erfolgt die Anwendung von harmonisierten Normen jedoch ebenfalls freiwillig, hat jedoch gegenüber der Anwendung sonstiger Normen einen entscheidenden rechtlichen Vorteil: Wenn und soweit ein Produkt unter Anwendung einer harmonisierten Norm konstruiert und hergestellt wurde, wird vermutet, dass das Produkt den grundlegenden Sicherheitsanforderungen, die in dem jeweiligen Rechtsakt niedergelegt sind, entspricht. In demselben Umfang, in dem eine harmonisierte Norm (vollständig oder nur in Teilen) angewandt wurde, greift auch die Konformitätsvermutung.

Im Übrigen gilt diese sogenannte gesetzliche Konformitätsvermutung im nicht harmonisierten Produktbereich über § 5 ProdSG auch für nationale technische Normen, die durch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BauA) im Gemeinsamen Ministerialblatt veröffentlicht wurden.

Praktisch führt die gesetzliche Konformitätsvermutung zu einer Umkehr der Beweislast und folglich zu einer erheblichen administrativen Erleichterung für den Hersteller in der Auseinandersetzung mit den Behörden der Marktüberwachung: Infolge der Konformitätsvermutung muss die Marktüberwachungsbehörde darlegen und beweisen, dass das Produkt trotz Anwendung von harmonisierten Normen nicht konform ist.

Die für Hersteller relevante Frage der Dauer dieser Konformitätsvermutung hat der EuGH in einem Urteil vom 26. Januar 2017, Az. T-474/15 (sogenanntes Global-Garden-Urteil) behandelt: Der Hersteller eines Produktes könne sich auf die Konformitätsvermutung einer harmonisierten Norm grundsätzlich bis zu dem Zeitpunkt berufen, zu dem die EU-Kommission die harmonisierte Norm offiziell (in Abteilung III) zurücknimmt.

Fazit

Die Anwendung technischer (harmonisierter) Normen bei der Herstellung von Produkten bleibt trotz der Rechtsprechung des EuGH im Fall James Elliot optional, d. h. die Hersteller haben nach wie vor die Wahl, auf welche Weise sie die Konformität ihrer Produkte technisch sicherstellen wollen. Die Anwendung von harmonisierten Normen bietet jedoch den entscheidenden Vorteil, dass der Nachweis der Produktkonformität einschließlich des Standes der Technik in letzter Instanz auch in der Auseinandersetzung mit den Marktüberwachungsbehörden deutlich vereinfacht wird.

Weiterführende Quellen

  • Verordnung (EU) Nr.1025/2012 abrufbar unter:

https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=uriserv%3AOJ.L_.2012.316.01.0012.01.DEU&toc=OJ%3AL%3A2012%3A316%3ATOC

  • Urteil des EuGH vom 26. Januar 2017, Az. T-474/15 (Global-Garden-Urteil abrufbar unter:

https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A62015TJ0474

  • Urteil des EuGH vom 27. Oktober 2016, C-613/14 („James-Elliott-Urteil“) abrufbar unter:

https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=184891&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1

B. Der neue Sachmangelbegriff in der Praxis – Vertrags- und AGB Gestaltung

Zu den wichtigsten Neuerungen des Kaufrechts in Folge der Umsetzung der Warenkaufrichtlinie (EU) 2019/771 gehört die Änderung des Sachmangelbegriffs (wir berichteten). Produkte sind seit dem 01.01.2022 nur dann mangelfrei, wenn sie den subjektiven Vereinbarungen der Parteien entsprechen und darüber hinaus auch objektiven Beschaffenheitskriterien entsprechen, die bei Sachen derselben Art üblich sind und die der Käufer objektiv erwarten darf. In Abkehr von der früheren Rechtslage ist ein Produkt daher nur noch dann mangelfrei, wenn es diese Vorgaben kumulativ erfüllt. Dieser neue Mangelbegriff gilt sowohl im B2C- wie auch im B2B- Geschäftsverkehr, kann jedoch wirksam abbedungen werden.

Auswirkungen für die unternehmerische Vertrags- und AGB-Gestaltung

Vor dem Abschluss von Kaufverträgen mit Verbrauchern gelten zukünftig erhöhte Anforderungen an die Aufklärung der Verbraucher über negative Abweichungen der Kaufsache von der erwartbaren Soll-Beschaffenheit und schärfere Anforderungen an die Zustimmung der Verbraucher zu einer solchen Vereinbarung. Für Unternehmen bedeutet dies, dass eine abweichende Vereinbarung voraussichtlich nicht mehr rechtssicher in AGB vereinbart werden kann, sondern hierfür eine individuelle vertragliche Regelung erforderlich ist, die aus Gründen der Nachweisbarkeit darüber hinaus dokumentiert und archiviert werden sollte.

Vor allem im Bereich des Online-Handels muss dem Verbraucher zukünftig die Möglichkeit eingeräumt werden, während des Bestellvorgangs – etwa durch eine aktive opt-in Option – einer solchen Abweichung vom objektiven Standard ausdrücklich zuzustimmen.

Auch im gewerblichen Kontext können Abweichungen von den objektiven Beschaffenheitsvereinbarungen wirksam vereinbart werden, für die nicht dieselben Anforderungen gelten, wie für Verträgen mit Verbraucher. Dennoch ist auch in diesem Kontext zu empfehlen, Abweichungen ausdrücklich zu vereinbaren und schriftlich zu fixieren. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwiefern negative Beschaffenheits­vereinbarungen in AGB-Klauseln der gerichtlichen Überprüfung Stand halten.

C. Update Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz

Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes tritt zu Beginn des neuen Jahres in Kraft. Nicht nur unmittelbar betroffene Unternehmen (d. h. zunächst solche, die mindestens 3.000 Mitarbeiter beschäftigen), sondern auch kleinere Unternehmen sollten sich vorbereiten. In Anbetracht der Intention und des Regelungsinhalts des Gesetzes ist zu erwarten, dass unmittelbar betroffene Unternehmen ihre Zulieferer vertraglich dazu verpflichten werden, entsprechende Sorgfaltspflichten zu erfüllen und die dafür erforderlichen Prozesse und Maßnahmen einzuleiten.

Was ist „angemessen“?

Die Diskussionen rund um den Umfang und den Aufwand im Zusammenhang mit der Umsetzung drehen sich um einen der zentralen Begriffe des Gesetzes: die Angemessenheit. Dieser Begriff macht deutlich, dass den Unternehmen nichts rechtlich oder tatsächlich Unmögliches abverlangt wird und dass eine individuelle Schwelle existiert, jenseits derer Maßnahmen nicht mehr erforderlich sind. Gleichzeitig findet sich im Gesetz oder dessen Begründung weder eine Definition dieses Rechtsbegriffs noch Erläuterungen, anhand derer zumindest abstrakte Kriterien für die Angemessenheit festzumachen wären.

Selbständige Definition im eigenen Geschäftsbereich erforderlich

Die dadurch entstehende Unsicherheit wird insbesondere vor dem Hintergrund möglicher Sanktionen noch verstärkt. Dabei sind Unternehmen – freilich im Rahmen der Vorgaben des Gesetzes – grundsätzlich frei, den Rahmen der Angemessenheit eigenständig zu definieren. Dies dürfte im Übrigen durch den Gesetzgeber beabsichtigt sein, da eine strikte Definition in Anbetracht der Diversität in der deutschen Wirtschaft nicht darstellbar wäre. Daher gilt es, den eigenen Geschäftsbereich, sowie die Lieferkette zu analysieren und eigene Überlegungen anzustellen, wie die Grenzen dessen festzulegen sind, welche Handlungen (nicht mehr) angemessen sind. Quervergleiche sind dabei angezeigt: so kann der erste Schritt einer Risikoanalyse beispielsweise darin bestehen, Fragebögen an die Lieferanten zu senden und darin die Umsetzung gesetzlicher Pflichten abzufragen. Parallel dazu ließen sich die Lieferanten anhand objektiver Kriterien (Produktionsstandort, Eigenschaften des Produkts, Rolle des Marktakteurs) zuordnen. Die Antworten aus dem Fragebogen und eine Bewertung anhand der vorgenannten objektiven Kriterien könnten dann zu einem risikobezogenen Scoring des Lieferanten führen.

Transparenz und Systematik sind entscheidend

Ungeachtet der konkreten Ausgestaltung wird es insbesondere darauf ankommen, die Entscheidungen für eine bestimmte Vorgehensweise zu dokumentieren und plausibilisieren zu können. Im Falle einer behördlichen Überprüfung kann dann nachvollzogen werden, welche Maßnahmen getroffen wurden. Dies erhöht den Aufwand der Behörde, einen Verstoß zu begründen und senkt parallel dazu das Risiko des Unternehmens.

D. Update Chemikalienrecht

Neben den regelmäßigen Änderungen im Stoff- und Chemikalienrecht, insbesondere in Bezug auf die Erweiterung der Liste von Kandidatenstoffen, wird sich die Umsetzung des European Green Deal in diesem Jahr auch auf die zentralen Rechtsakte (REACH- und CLP-Verordnungen) auswirken. Die Systematik dieser Verordnungen steht vor dem Hintergrund des Green Deals und der daraus abgeleiteten Chemikalienstrategie, sowie aufgrund bisheriger praktischer Erkenntnisse auf dem Prüfstand.

Anpassungen der REACH-Verordnung

Die REACH-VO soll in diesem Zusammenhang nicht umfassend neugestaltet werden. Vielmehr sollen punktuelle Anpassungen dazu beitragen, dass der Umgang mit den Anforderungen für Betroffene einheitlicher und nachvollziehbarer gestaltet wird. Das übergeordnete Ziel des europäischen Verordnungsgebers ist es, eine transparente Regulatorik zu schaffen, die dazu führt, dass nur eine Bewertung je Stoff erfolgen soll („one substance – one assessment“).

Die beabsichtigten Maßnahmen auf dem Weg dorthin umfassen dabei insbesondere eine Anpassung der Informationsanforderungen für Registrierungen, eine Ausweitung des generischen Risikomanagements, das Festlegen von Kriterien bei der Einstufung von Kandidatenstoffen und eine Weiterentwicklung des Zulassungs- und Beschränkungssystems. Allein anhand dieser Aufzählung und der Vielzahl an derzeit diskutierten Lösungsansätzen wird deutlich, dass die bisherige Systematik in erheblichem Umfang geändert werden könnte. Gleichzeitig steht zu befürchten, dass die selektive Anpassung einzelner Regelungen kein kohärentes Gesamtergebnis liefert. Folglich ist zu erwarten, dass Abgrenzungsschwierigkeiten und Auslegungsfragen erst nach Inkrafttreten der Änderungen auftreten und korrigiert werden müssen. Daher ist es unerlässlich, sich bereits jetzt an der Diskussion zu beteiligen und etwaige Bedenken oder Vorschläge zu äußern. Die aktuelle öffentliche Konsultationsphase endet Mitte April.

Anpassungen der CLP-Verordnung

Parallel zu den Änderungen der REACH-Verordnung wird auch die CLP-Verordnung angepasst werden. Diese umfassen etwa die Aufnahme neuer Gefahrenklassen (z.B. bzgl. endokriner Disruptoren) und die Möglichkeit der Kommission, harmonisierte Einstufungen initiieren zu können. Bereits Mitte diesen Jahres ist die Ausarbeitung des Kommissionsentwurfs zu erwarten, der im Anschluss zur Beratung in das Europäische Parlament, sowie den Rat weitergeleitet wird.